Gigtagebuch Teil 8 – das Sechstagerennen
Mittwoch, 16.07.08
Biergarten des Estragon in Neckarau, wo wir vor der EM bereits viermal gespielt hatten. Keine besonderen Vorkommnisse. Einige bekannte Gesichter, sonst business as usual.
Donnerstag, 17.07.08
In unserem zweiten Wohnzimmer, der Fernfahrerkneipe, in der wir jeden dritten Donnerstag im Monat spielen, ist es zunächst relativ ruhig. Um dreiviertelzehn geht die Türe auf, und es strömt eine Horde mittelalter Ruhrpottler in den Raum, die hier auf Montage sind. Als wir „Apache“ intonieren – mit Hilfe des AG-Stomp mit reichlich Echo versehen – kommt die erste Lage Bier. Unser Lagerfeuer de Luxe kommt hier stark an, bei „In the ghetto“ fließen verschämte Männertränen, für einen Cat Stevens-Titel kommt die zweite Lage von einer der wenigen anwesenden Frauen. In der Pause verspricht uns eine der öfter anzutreffenden Luftpumpen, für uns eine Tour de Ruhr rund um Mönchengladbach zu organisieren, und ab dann wird getanzt. Einer der Ruhrpottler geht mit dem Hut sammeln, und der Wirt winkt mit einem zusätzlichen grünen Schein, so dass wir ohne nennenswerte Gegenwehr einen vierten Set durchziehen. Inzwischen haben die meisten der Gäste mittlere Bettschwere erreicht, und, nachdem wir einen von ihnen aufgehoben und wieder auf seinen Hocker gepflanzt und an die Theke gefesselt haben, müssen wir weitere Freigetränke energisch abwehren. Wir suchen das Weite und finden es auch.
Freitag, 18.07.08
Heute spielfrei, dafür Hauseinweihung und Geburtstagsparty bei meinem Partner. Der anmutig verwilderte Garten ist mit der Monitoranlage der Band ausreichend beschallt (der umliegende Ortsteil gleich mit) und mit unserer Beleuchtungsanlage auch nett illuminiert. Über den zwei Traversen sind Planen abgespannt, die uns vor dem Regen schützen sollten, den Beweis ihrer Tauglichkeit jedoch schuldig bleiben dürfen.
In einer Ecke des Gartens ist ein Extrazelt für die Raucher, komplett mit ausgetretenem Perser, fetten Kissen, Räucherstäbchen und einer Wasserpfeife, aufgebaut. Allerliebst anzuschauen, auch wenn ich selbst seit Jahren nichts mehr rauche. Es ist dennoch das Verdienst meiner Gattin und ihrer Frühschicht am Samstag, die mich vor einer gepflegten Versumpfung bewahren, denn ausreichend Bölkstoff wäre vorhanden gewesen…
Samstag, 19.07.08
Beachparty im Leo! Die beiden Chefinnen haben schätzungsweise zwei Tonnen Sand in die Hütte gekarrt, Liegestühle aufgestellt und mitten hinein eine Cocktailbar gepflanztt. Die Bude ist rappelvoll, die Stimmung bereits ab dem zweiten Song unglaublich. Wir beide laufen zu Höchstform auf, Sebi ist trotz des gestern erwartungsgemäß noch erfolgten Absturzes bester Laune und sogar fast konzentriert. Ein Gast will uns lautstark eine verdiente Pause verweigern, worauf ich ihm anbiete, er möge doch zur Bühne kommen, damit ich ihm in die Hosentasche pissen könne. Die Kneipe tobt. Allein im letzten Set mag das Publikum meiner Aufforderung nicht nachkommen, folgenden Satz laut nachzusprechen: „Das Leben ist voll die Scheiße!“
Dessenungeachtet war es ein toller Abend, und ich bin mir nicht sicher, wie wir den beim nächsten Gig dort im Oktober noch toppen sollen.
Sonntag, 20.07.08
Das Bistro mit dem originellen Namen „Seeblick“ ist nichts anderes als der etwas umfangreichere Kiosk eines Badesees. Das Wetter ist wechselnd bewölkt, aber trocken, für die Jahreszeit zu frisch und das bei einem ordentlichen Lüftchen. Der Biergarten ist aber nahezu komplett besetzt, als wir um 18:00h anfangen. Publikum und Wirt sind begeistert. Gegen halb zehn nehmen wir außer der Gage und einer reizenden Tischlampe zwei weitere Termine mit, einen davon inhäusig im Dezember vor dem Kamin, und einen gut bezahlten privaten Geburtstagsgig. Im Gyros war eine Spur zu viel Knoblauch, fand ich.
Montag, 21.07.08
Kerwemontag. In Gadern. Dort, wo wir unlängst auf dem Bauernhof…
Gute Güte! Es ist mein letzter Gig mit den Leutchen; sie haben noch immer keinen Ersatz für mich gefunden, der Schlagzeuger arbeitet seit Jahresbeginn in Baden-Baden und es wird nicht mehr geprobt. Ich habe trotz Zelt mit sehr großer Bühne nur den Yamaha, die Billig-Explorer und eine Strat dabei, weil ich eigentlich ja gar keine Lust habe. Soundcheck um 19:00h. Dabei stelle ich fest, wieviel Spaß es mir macht, zur Abwechslung endlich mal wieder elektrisch zu hantieren.
Als wir um 21:00h beginnen, ist das Zelt zu einem Drittel gefüllt, das anwesende Publikum ebenfalls – na ja, vielleicht etwas weniger – und es scheint zunächst niemanden zu interessieren, was wir da so treiben. Ob es der Klimawandel ist, kann ich nicht sagen. Jedenfalls ist der Hochsommer mit 10° sehr knapp bemessen. Beim Ausatmen bilden sich lustige Wölkchen, so dass die Gesangsmikros in einen zarten Nebel getaucht sind. Meine vorsichtige Frage nach Glühwein wird mit Hohngelächter quittiert, also nehme ich Kaffee. Im zweiten Set ist die Situation unverändert, Zelt und Menschen füllen sich. Auch Dank der recht umfangreichen Lichtanlage ist die Temperatur inzeltig auf 13° geklettert.
Irgendwann gegen halb zwölf schwappt irgendetwas über, wovon ich nicht richtig mitbekommen habe, was es war. Jedenfalls verlieren Odenwälder Bauern zusehends die Contenance. An Kid Rock und „All summer long“ hat es vermutlich nicht gelegen, auch wenn man mir sagt, dass dieser Mist auf Platz 1 der Hitparade sei. Bei „Rhythmo de la noche“ oder wie das heißt gibt es dann kein Halten mehr. Die männliche Bevölkerung entblößt den Oberkörper, auch das eine oder andere weibliche Wesen zeigt seine sekundären Geschlechtsmerkmale (wenn auch eher versehentlich). Der Set geht knapp 80 Minuten. Hinterher ist mir warm, und eigentlich könnte ich jetzt heimfahren. Es sollte nicht sein.
„Lieber sterben als Schwung verlieren!“ Diese alte Redensart von Dieselfahrern der Prä-Turboladerära gilt scheinbar auch für Menschenansammlungen. Jedenfalls drängt sich mir der Verdacht auf, dass es in deutschen Mittelgebirgslandschaften eine Lebensform gibt, die ab einer gewissen Uhrzeit und einem bestimmten Alkoholpegel wie ein Kollektivorganismus agiert, dem zunehmend die allgemein die mit der Spezies Homo sapiens sapiens in Verbindung gebrachte Individualität abhanden zu kommen scheint. Ob besagte Lebensform von Aliens übernommen wurde, kann ich nicht sagen; auch die Zentrale, deren Befehlen sie zu folgen scheint, konnte ich nicht orten. Diese organische Masse jedenfalls zuckt extatisch, dabei streckt sie allenthalben Tentakel in die Luft und gibt Laute von sich, die keiner mir bekannten Sprache ähneln. Einzig einen immer wiederkehrenden Begriff konnte ich als „Zugabe! Zugabe!“ deuten. Um lebend hier herauszukommen, gibt der Bandleader entsprechende Signale. Normalerweise kostet bei mir das zweite Gitarrensolo in einem Titel extra, aber hier spiele ich um meine körperliche Unversehrtheit. Irgendwann ist der Organismus aber letztlich erschöpft. Ich auch.
Der Abbau geht in Folge meiner sparsamen Ausstattung zügig vor sich, der Abschied von den Kollegen auch: Wir telefonieren. Ab nach Hause!
….
Läse ich regionale Gazetten, hätte ich mitbekommen, dass der Saukopftunnel gesperrt ist. So stehe ich – mitten in der Nacht, müde und leicht genervt – vor dem Umleitungsschild, das mein Navigationsgerät völlig analog zum Edelschrott degradiert. Der Verkehrplanung irgendeiner öffentlichen Hand hilflos ausgeliefert, von der ich nicht annehme, dass es überhaupt eine Hand ist, sondern eher ein anderer Körperteil außer dem Kopf, bleibt mir nichts übrig, als der ausgeschilderten Strecke zu folgen. Hat hier irgendjemand behauptet, Deutschland sei dicht besiedelt und verfüge mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern über eine gut ausgebaute Infrastruktur? Eine Strecke von 28 km, normalerweise in einer guten halben Stunde zu bewältigen, führt mich durch eine landschaftlich reizvolle, fahrtechnisch anspruchsvolle Strecke, die geübte Motorradfahrer in Begeisterung versetzt und folgende Ortschaften durchläft: Siedelsbrunn – Abtsteinach – Trösel – Unterflockenbach – Wünschmichelbach – Rippenweiher – Rittenweiher – Hohensachsen.
Und das am Dienstagmorgen um halb vier Uhr, bei teilweise nasser Fahrbahn und mit der Gewißheit, dass jeder Entgegenkommende enweder vollständig betrunken oder auf andere Weise unzurechnungsfähig sein muß. Ab Hohensachsen befinde ich mich wieder auf einem Terrain, auf dem unfallfreies Essen mit Messer und Gabel nicht mehr besonders ausgezeichnet wird. Um 04:00h morgens erreiche ich nach einer guten Dreiviertelstunde mein trautes Heim; selbst das Abschlußbier entfällt heute ...